Warum die Tettnanger Grünen-Fraktion diese nicht unterstützt
(hs, 01.03.25) In der heutigen Ausgabe der Schwäbischen Zeitung war es zu lesen, die von der Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) betroffenen Städte und Gemeinden, darunter auch Tettnang, ziehen wegen eines formalen Fehlers vor das Sozialgericht. Der mögliche formale Fehler sei, dass die betroffenen Städte und Kommunen vor der Entscheidung zur Schließung ihrer Notfallpraxen nicht angehört worden seien. Gegen die Entscheidung die Notfallpraxen zu schließen selbst besteht kein Klagerecht. Seit Monaten artikulieren die betroffenen Kommunen lautstark ihren Protest, geholfen hat es nichts. Und die KVBW hat auch bereits angekündigt, dass sie bei ihrer Entscheidung bleiben werde, auch wenn sie bei der Klage unterliegen sollte. Und so sind auch die Prognosen hinsichtlich des Rechtsstreits vor dem Sozialgericht wohl so, dass zwar vielleicht die Klage gewonnen werden könnte, die betroffenen Städte und Kommunen damit aber dem Erhalt ihrer Notfallpraxen keineswegs näherkommen.
Die Tettnanger Grünen-Fraktion unterstützt diese Klage aus den verschiedensten Gründen nicht:
• Kein Privatmensch, auch kein vermögender, der einen Rechtsstreit auf eigenes Kostenrisiko führen muss, käme auf die Idee, bei der Prognose, was das eigentliche Ziel anbelangt, nämlich den dauerhaften Erhalt der Notfallpraxis in Tettnang, auch nur einen Euro in einen Rechtsstreit zu stecken, nur um ein Signal zu setzen.
• Das Zeichen, dass die Stadt mit dem Vorgehen der KVBW nicht einverstanden ist, also der Nichtbeteiligung als betroffene Kommune im Verfahren, wurde öffentlich bereits deutlich auch ohne Klage gesetzt. Diese Nicht-Einbeziehung in den Entscheidungsprozess rügt auch die Tettnanger Grünen-Fraktion. Dazu bedarf es aber keiner Klage, welche mit einem Kostenrisiko für die Stadt in Höhe von mehreren Tausend Euro verbunden ist.
• Mit dem Anschluss der Stadt an die Klage wird nach außen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern signalisiert, dass mit der Klage etwas bewirkt werden könnte. Am Ende wird dieses Signal zu einer weiteren Frustration in unserer Bürgerschaft führen und zu mehr Politikverdrossenheit. Der Satz „Die machen ja sowieso was sie wollen.“ klingt schon in den Ohren.
• Und mit diesem Schritt wird das Vertrauen in die rechtmäßige und verantwortungsvolle Tätigkeit der zuständigen und verantwortlichen Stellen erschüttert. Zuständig für die medizinische Versorgung ist die KVBW unter der Rechtsaufsicht des Landesgesundheitsministers, nicht die Stadt Tettnang. Es wird unterstellt, die KVBW würde das Interesse der örtlichen Bevölkerung an einer guten medizinischen Versorgung bei der Abwägung ihrer Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigen.
• Selbst örtliche Mediziner bestätigen im Gespräch, dass die Notfallpraxis in Tettnang für die medizinische Versorgung nicht notwendig ist. Ihre Sorge gilt vielmehr der Zukunft der Klinik Tettnang mit ihrer Notaufnahme.
• Die Tettnanger Grünen-Fraktion gesteht der KVBW in der Sache durchaus zu, dass sie in einer Problemsituation steckt, die sie zu lösen hat. Auf der einen Seite sind immer weniger Ärzte bereit, Notfalldienste zu übernehmen. Es wird u.a. daher immer schwieriger, für bestehende Praxen Nachfolger zu finden. In Meckenbeuren ist 2021 eine Hausarztpraxis verschwunden. In Neukirch ist es vor einigen Jahren nur mit Mühe und mit starkem Engagement der Kommune gelungen, nach langer Suche einen Nachfolger für eine dortige Hausarztpraxis zu finden. Aktuell findet Kinderarzt Dr. Kieninger in Meckenbeuren keine Nachfolge für seine Praxis. Damit trifft die verbleibende Ärzteschaft eine zunehmende Belastung mit Notdiensten, eine Spirale ist in Gang.
Die Bemühungen der KVBW hier gegenzusteuern, kommen überhaupt nicht mehr zur Sprache. Zitat aus einer Broschüre der KVBW zum Thema, Seite 6:
VERSORGUNG
DIE AMBULANTE MEDIZINISCHE VERSORGUNG 2022
Mehr Ärztinnen und Ärzte braucht das Land – vor allem Hausärzte
Die Zahl der niedergelassenen Ärztinnen, Ärzte und Psychotherapeutinnen in Baden-Württemberg steigt seit Jahren kontinuierlich. Seit dem Jahr 2013 um zwölf Prozent auf über 23 000. Gleichzeitig herrscht aber in vielen Regionen Ärztemangel, vor allem im hausärztlichen Bereich. Woran liegt das? Trend zur Anstellung hält an. Im Jahr 2010 waren sieben Prozent der KVBW-Mitglieder angestellt, im Jahr 2022 sind es bereits 24 Prozent. Damit hat sich der Anteil der Angestellten mehr als verdreifacht. Im Jahr 2022 nimmt fast schon jedes vierte KVBW-Mitglied an der vertragsärztlichen Versorgung in Anstellung teil. Übrigens ist die Anstellung nicht nur für Ärztinnen attraktiv: Zunehmend arbeiten auch ihre männlichen Kollegen in Anstellung. Bei den Hausärztinnen ist der Anteil der angestellten Ärztinnen und Ärzte in den letzten zehn Jahren von 24 auf 31 Prozent gestiegen.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig: Junge Ärztinnen und Ärzte scheuen vor allem das unternehmerische Risiko einer Selbstständigkeit. Ebenso wird die überbordende Bürokratie als Hemmschuh für die Niederlassung genannt. Viele Medizinerinnen möchten sich einfach nur um medizinische Auf-gaben kümmern und nicht noch Verwaltungsarbeiten erledigen. … Teilzeit und Anstellung verschärfen Ärztemangel Der Trend zur Teilzeittätigkeit und zur Anstellung ist ungebrochen. Auch bei jungen Ärztinnen und Ärzten spielt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine wichtige Rolle. Dieser Trend verschärft den ohnehin schon bestehenden Nachwuchsmangel in der ambulanten Medizin. Geht eine Ärztin oder ein Arzt in den Ruhestand, werden zwei bis drei neue Ärztinnen gebraucht, um die gleiche Arztzeit für die Patientenversorgung zu generieren. Die Arztzeit ist und bleibt knapp, wie die nachfolgende Grafik zeigt.
…
Hausärztliche Versorgung
Noch gravierender ist die Entwicklung bei den Hausärztinnen und Hausärzten. Im Gegensatz zur allgemeinen Entwicklung der Arztzahlen ist die Zahl der hausärztlich tätigen Niedergelassenen nicht gestiegen, sondern seit 2013 um 69 „Köpfe“ gefallen. Bei den Versorgungsanteilen ist der Rückgang noch größer: 371 Versorgungsanteile sind für die Patientenbetreuung verloren gegan-gen.Hinzu kommt: 37 Prozent der Hausärzt*innen sind über 60 Jahre alt. Rund 2.600 sind älter als 60 Jahre und gehen in den nächsten Jahren in den Ruhe-stand. Für diese Hausärztinnen und Hausärzte fehlt flächendeckend der Nachwuchs. Über das Rentenalter von 65 Jahren hinaus arbeiten derzeit rund 1.400 Hausärztinnen und Hausärzte und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der hausärztlichen Versorgung.
Und hier geht es nicht nur um die Versorgung während einiger Stunden am Wochenende, sondern während der ganzen Woche!
• Auf der anderen Seite soll die KVBW eine gute medizinische Versorgung, eben auch während einiger Stunden am Wochenende, gewährleisten.
• Auch, dass die KVBW angekündigt hat und was auch Gesundheitsminister Manne Lucha fordert, nämlich Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um den Wegfall der Notfallpraxis zu kompensieren, z.B. den Ausbau von Angeboten der Tele-Medizin usw., wird nicht anerkannt.
• Mit der Klage wegen der Nichtbeteiligung werden sich die Fronten zwischen der KVBW und den von der Schließung betroffenen Kommunen weiter und dauerhaft verhärten. Das nützt unserer Bevölkerung nicht, im Gegenteil. Die Tettnanger Grünen-Fraktion würde es für sinnvoller halten, deeskalierend zu argumentieren, damit umso mehr Verständnis für die örtlichen Belange zu wecken und mehr und bessere Kompensationsmaßnahmen zu bekommen. Mit der „Hau-drauf-Taktik“ kommen wir m.E. nicht weiter, insbesondere nicht, wenn keine realistische Lösungsmöglichkeit aufgezeigt werden kann.
• Die Forderung der Erreichbarkeit einer Notfallpraxis innerhalb einer bestimmten Frist, ist für einen erheblichen Teil unserer Bürgerschaft schon heute gelebte Illusion. Versuchen Sie einmal an einem Sonntag als im Ortsteil Oberhof wohnender älterer Mensch, der auf den ÖPNV angewiesen ist, innerhalb einer halben Stunde eine Notfallpraxis aufzusuchen.
• Unsere Sozialgerichte hätten sinnvolleres zu tun, als sich mit einem Rechtsstreit zu beschäftigen, der nur als symbolisches Scheingefecht geführt wird.
Die medizinische Versorgung unserer Bevölkerung ist eine echte Herausforderung, der sich alle stellen müssen. Unter den gegebenen Umständen den Wünschen im größtmöglichen Umfang ist auch für eine KVBW nicht einfach. Und da hilft Symbol-Politik nicht weiter.
Bildquellen
- Notfallpraxis: Hans Schöpf