Haushaltsrede 2024 von Kajo Aicher für die Stadtratsfraktion der Grünen
(ka, 14.02.2024) „Schuldenexplosion droht am Horizont“ so titelte die Schwäbische Zeitung am 23.01.23 nach der Vorstellung des Haushalts für 2023. „Stadt Tettnang erwartet Rekordschuldenstand“ so die Überschrift am 22.01.2024.
Hohe Verschuldung in der Zukunft und aktuell einen deutlichen Ergebnisüberschuss … Alle Jahre wieder klingen die Planwerte besorgniserregend – und entpuppen sich dann als überzogenes Szenario, das nicht kommt: Der Plan ersetzt den Zufall durch den Irrtum – bei uns mit positiven Ergebnissen. Da ließe sich viel im Detail ausführen, dazu muss ich auch nicht die Aussagen der Kollegen Bernd Bentele und Peter Gaissmaier wiederholen die wir im Grundsatz durchaus teileweise teilen. Ich nehme mir am Ende der Wahlperiode und für den ersten Haushalt mit Frau Rist lieber ein wenig Zeit für eine Rückschau auf eben diese Wahlperiode.
Die letzten 5 Jahre könnte man überschreiben mit „Die Welt ist aus den Fugen geraten“. Die Corona-Krise stellte uns vor große Herausforderungen. Nicht nur organisatorisch, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich. Vieles war sehr kompliziert oder verboten. Die mentalen Nachwirkungen werden uns vermutlich noch lange beschäftigen.
Der Ukrainekrieg stürzte uns nicht nur in eine Energiekrise gekoppelt mit hoher Inflation, sondern auch in eine Sinnkrise. Kriegerische Auseinandersetzungen nehmen zu und es ist kein Ende in Sicht. Auf der anderen Seite belastet uns der Klimawandel enorm und die globale Zusammenarbeit zur Abwendung der Katastrophe leidet unter den Krisen
Und auch lokal hatten wir einige Turbulenzen zu meistern. Der Ausfall von Bürgermeister Bruno Walter wurde durch das Leitungsteam im Rathaus in Kooperation mit den Stellvertretenden Bürgermeister:innen mit vereinten Kräften gemeistert. Hier geht unser herzlicher Dank stellvertretend an Herr Schwarz.
Frau Rist wurde zur neuen Bürgermeisterin gewählt.
Als Gemeinde sind wir relativ gut durch das turbulente Fahrwasser gekommen. Wir haben viel angepackt und auch viel umgesetzt.
Stichwortartig ein Blick zurück aus unserer „Grünen Sicht“ was wir als gute Fortschritte in TT werten. Themen, die häufig erst abgelehnt wurden und dann später doch kamen, als wir uns im GR dann zusammengefunden hatten 😉
- 2 Kindergärten wurden gebaut – Schäferhof und Loreto. Die neue Kita Kau ist in der Planung. Dass wir dafür keine Förderungen bekommen haben ist nicht ok.
- OU/AU ist seither viel passiert: 2 gebaut! Jahnstraße und Loretopark, Emil-Münch-Str. konnte ohne Container gelöst werden, in Fünfehrlen wurde ein Gebäude entsprechend umgebaut
- Das Intergrationsmanagement wurde sehr erfolgreich eingeführt und ein Integrationsbeirat gegründet der jetzt ins Laufen kommt.
- Mit der neuen Sporthalle sind wir jetzt endlich im Vergabeverfahren. Auch hier wäre eine gute Förderung vom Land/Bund wünschenswert.
- Das Thema „Bezahlbares Wohnen“ zog sich durch die ganze Wahlperiode. Hier haben wir uns zu wohnbaupolitischen Grundsätzen durchgerungen – leider kamen der konkreten Umsetzung nun Krisen, Inflation und ein EU Urteil zum §13b in die Quere.
- Kreuzung Oberhof/Schäferhof: Wir sehen es positiv, dass wir weit weniger bezahlen werden, als zunächst geplant war! Auch das Land bezahlt jetzt seinen Teil für eine sichere Lösung. Weiterhin richtig und wichtig: Die Belange des Fuß- und Radverkehrs sind mit zu betrachten!
- Das Verständnis „Pflichtaufgaben vor Freiwilligkeitsleistungen“ sehen wir mittlerweile als breiteren Konsens im GR an …
- Die Ortsentwicklung Kau war eine gute Sache mit Bürgerbeteiligung … Leider ist seither zu wenig passiert …
- Das KiTT wurde finanziert und ist eine Erfolgsgeschichte des Bürgerschaftlichen Engagements!
- 2022 wollten wir erstmalig ein Klimabudget und sind gescheitert -– manches dauert halt ein bisschen länger. 2023 war die Zeit auch in TT reif und es hat – mit knapper Mehrheit geklappt! Ganz nach dem Motto „Gut Ding will Weile haben“
- Eine tolle Weihnachtsbeleuchtung – von uns gefordert, dann lautstark abgelehnt, jetzt ist sie wunderschön und günstig vorhanden 😉
- Das große Thema Nahwärme – als Einstieg in die Wärmewende in Tettnang: Hier zahlt sich Geduld und Zusammenarbeit aus. Der eine oder die andere wollte schon aufgeben! Und jetzt auch unterstützt von einem Energiemanager und einer Klimamanagerin, einer ersten städtischen Vortragsreihe und der bereits begonnen Arbeit zur Wärmeplanung kann sich sehen lassen … als wichtigen Schritt auf unserem Weg zur Klimaneutralität
- Das Bürgerschaftliche Engagement entwickelt sich immer mehr zu einem wichtigen Akteur in der Stadt und muss es auch noch viel stärker werden, wenn wir auf die Herausforderungen des Klimawandels und auf den vor uns liegenden Weg zur Klimaneutralität schauen.
- Auch die Sanierung Freibad Obereisenbach – wurde gestemmt und abgeschlossen. Eine größere Freiwilligkeitsleistung – etwas was in der näheren Zukunft sehr schwierig werden dürfte.
- Das St-Anna-Quartier ist ein „Leuchtturmprojekt“ das weit über Tettnang hinaus ausstrahlt!
Wir denken, dass sich diese Bilanz sehen lassen kann – und mit einem vernünftigen Einsatz der Mittel erreicht wurde – und keine Schuldenkatastrophe ausgelöst wurde!
Daneben gibt es auch Dinge, die begonnen wurden und endlich in die richtige Richtung gehen
- Projektplanungen mit Kopplung der Investitionsplanung, da haben wir vielversprechende Ansätze gesehen … und hoffen auf mehr davon.
- Die von uns schon länger adressierte Montfortstraße wird noch dauern, aber in Kombination mit Nahwärme sehen wir 2028/2029 als realistisch an. Kurzfristig muss dort dem massiven Verfall entgegengewirkt werden – zum Wohl aller, aber insbes. der älteren Bürger:innen.
- Unser Antrag auf eine PV-Anlage auf den Dächern des Bauhofs wurde im letzten Jahr noch abgelehnt. Mit der jetzt von der Verwaltung vorgeschlagenen PV-Gesamtstrategie können auch wir viel besser leben und hoffen auf die betriebs- und volkswirtschaftliche Vernunft des GR.
- Fachkräftemangel: Dieser wird uns in den KiTas aber auch in anderen Bereichen, z.B. in den Freibädern, weiter beschäftigen… aber trotz allem ist Tettnang im Vergleich zu anderen Kommunen noch gut aufgestellt! Aber es wird uns weiter viel abverlangen!
Wo sehen wir die größten Herausforderungen für die unmittelbare Zukunft? Wo müssen wir besser werden?
- Unsere Kritik an der Planungsqualität ist nicht neu: Hier müssen wir dringend besser werden, auch wenn dann die Schlagzeilen in der Schwäbischen Zeitung nicht mehr ganz so reißerisch
- ausfallen können. Aber die Schwäbische Zeitung kann ja auch anders, wie z.B. am 30.12.23 im Kulturteil unter dem Titel: „Mehr Optimismus wagen“, Zitat: „Während die Weltuntergangspropheten alles schlechtreden, hat die Angst Hochkonjunktur – Zum Glück ist es nur halb so schlimm wenn man genau hinschaut – Ein Plädoyer für mehr Zuversicht“. Sehr empfehlenswert in diesen polarisierten Zeiten.
- Mit Nahwärme und Sporthalle haben wir aktuell aber die richtigen Prioritäten, aber auch große Aufgaben vor uns.
- Die Entwicklung zum European Energy Award (eea) ist deutlich ausbaufähig, hat aber auch begonnen.
- HVO als CO2 reduzierte Alternative für unsere dieselbetriebenen Stadtbusse konnten wir nicht
- umsetzen, da Reise- und Stadtbusse bei Strauss nur eine Tankstelle haben. Hier haben wir uns als Fraktion an die Bundespolitik gewandt, es laufen mittlerweile Gesetzesvorhaben, HVO endlich auch in Deutschland an allen Tankstellen zuzulassen!
Die Verkehrswende wird uns in Tettnang noch sehr beschäftigen.
- Im Radverkehr hat sich leider so gut wie nichts verbessert. Einziger Lichtblick ist die Fahrradstraße auf der B467alt, die die Situation in Richtung See gewaltig verbessert! Da muss im Stadtgebiet zukünftig noch viel mehr passieren – Möglichkeiten gibt es, wenn der GR es will.
- Mit der Situation in der Innenstadt, der Aufenthaltsqualität, dem Ladensterben in der Montfortstraße und dass die Karlstraße als Haupteinkaufstraße extrem an Attraktivität verloren hat, all das kann uns nicht zufrieden stellen. Was man sich von der Umgestaltung erhofft hat, dass die Straße attraktiver wird, verpufft durch das sich ständig reduzierende Angebot.
- Noch nicht zufrieden sind wir beim Thema Gesamtstrategie, die wir schon vor 2019 eingefordert haben – um der Verwaltung klare Ziele und der Stadtentwicklung eine klare Richtung zu geben. Die Klausur zu den Themen „Schul- und Kitaentwicklung“ sowie „Stadtsanierung“ sowie die Besprechungen zur Nahwärme zeigen gute erste Schritte zu längerfristigem Denken und Handeln! Aber hier sehen wir noch viel Potential und auch Chancen für einen neuen Gemeinderat um große Themen langfristig anzugehen: Und natürlich sind wir alle der Meinung, dass Tettnang eine Veranstaltungshalle braucht. Aber das dürfte die größte finanzielle Herausforderung überhaupt werden. Vielleicht gibt es ja gute Ideen für kostengünstige Lösungen die uns diesem Ziel in einem überschaubaren Zeitraum näherbringen. Unseren Vorschlag dazu haben wir als Antrag bereits eingereicht und freuen uns auf die Diskussion im Gemeinderat dazu.
Es braucht aber den Willen und eine gute Zusammenarbeit um auch die ganz dicken Bretter wie z.B. „bezahlbares Wohnen“ auf kommunaler Ebene weiter zu bearbeiten.
Sehr positiv sehen wir die Re-Zertifizierung Tettnangs als Fairtrade Stadt. Damit bekennt sich Tettnang weiter für Nachhaltigkeit und Fairness. Mit dem Montfort-Gymnasium und der Elektronikschule sind gleich 2 Schulen als Fairtrade Schulen zertifiziert! Seit 2023 ist auch die Kirchengemeinde St. Gallus Faire Gemeinde. Glückwunsch der Faire Gedanke setzt sich durch!
Apropos: Der Faire Handel setzt sich seit über 50 Jahren dafür ein, dass die Bäuerinnen und Bauern von ihren Produkten leben können. Speziell im globalen Süden. Die aktuellen Proteste der Landwirte zeigen, dass das auch hier im globalen Norden nicht der Fall ist. Höchste Zeit, dass es auch hier einen Fairen Handel gibt damit die Landwirte von ihren Produkten leben können. Dahingehend sollten wir die Landwirte unterstützen.
Und das sollte, nein muss sich in der Beschaffung der Stadt deutlich niederschlagen. Regional, fair und nachhaltig!
Zum Schluss möchte ich in der Vorausschau wieder auf die Schlagzeilen der Schwäbischen Zeitung und auf den zu beschließenden Haushalt 2024 kommen.
Auch hier stimmt manchmal der Satz: Es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird.
Schauen wir auf die Zahlen: 2021 lautete die Prognose für den Schuldenstand 2023: 24 Mio €… aktuell stehen wir 16,3 Mio €.
Klar ist uns allen, dass wir weitere „Wahnsinnsinvestitionen“ (Zitat Frau Rist) vor uns haben. Aber es sind, wie Frau Rist richtig betonte „Pflichtaufgaben“ und diese wiederum stärken die lokale Infrastruktur. Wir machen keine Schulden für Konsum. Wenn der Staat oder die Kommunen in Zeiten der Krise nicht investieren, dann geht die Wirtschaft schneller bergab als uns lieb sein kann.
Alles in Allem ist es uns wichtiger den folgenden Generationen eine intakte Umwelt und eine gute Infrastruktur zu hinterlassen als Schulden. Öffentliche Schulden sind ganz anders zu betrachten wie private!
Wir schaffen hier Werte!
Die Bilanz der letzten Wahlperiode kann sich sehen lassen und es freut uns als Fraktion besonders, dass dazu hier im Gemeinderat, meist großer Konsens herrschte.
Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchten uns für die Aufstellung eines realistischen und gut nachgebesserten Haushalts, bedanken, auch dafür, dass sich Frau Rist, Frau Schubert, Frau Fuchs, Frau Bentele sowie Herr Schwarz die Zeit genommen haben, uns selbigen zu erläutern und unsere Fragen kompetent zu beantworten.
Ein Manko ist die Tatsache, dass uns kein Jahresabschluss 2022 (!) vorliegt. Wir planen also gegen Annahmen und Hochrechnungen von 2022+2023 sowie gegen den Jahresabschluss 2021! In der Bereitstellung der Daten für uns ist auch noch einige Luft nach oben! J
Den allermeisten Änderungsvorschlägen innerhalb der Projektlisten der Verwaltung stimmen wir zu, weil sie Sinn machen. Auf unsere „Mähstrategie“, die manche noch nicht ganz verstanden haben, möchte ich kurz eingehen. Uns missfällt der Ansatz immer und überall Mähroboter einzusetzen aus verschiedenen Gründen. Es scheint uns nicht klug, dass immer mehr einfache Tätigkeiten in den unteren Lohngruppen automatisiert und damit wegrationalisiert werden anstatt Menschen die Chance auf Arbeit zu geben. Unser Vorschlag: 1–2 Personen auf Minijob-Basis einstellen, ggf. notwendiges Material erweitern und damit die Rasen mähen. Das zeigt den Kindern auch, dass nicht alles „automatisch“ passiert. Die Kosten für diese Tätigkeiten sind mit ca. 15.000 € überschaubar – und es hat auch einen ökologischen Nutzen für die Biodiversität.
Grundsätzlich ist es aber so, dass die Musik nicht in den Projektlisten, sondern im Produktplan steckt. Hier wurde u.A. viel Geld für die Instandhaltung kommunaler Gebäude eingestellt – was wir begrüßen. Wir hoffen, dass dies auch mit Personalkapazitäten und Zeitplänen auf die Machbarkeit unterfüttert ist.
Wir freuen uns über positive Ergebnisse am Jahresende, aber noch mehr freuen wir uns, wenn die geplanten Dinge zum Substanzerhalt auch erledigt wurden.
Eine letzte Bemerkung sei mir erlaubt:
Die Probleme und Herausforderungen wie Klimakatastrophe mit Migration, Artensterben, usw. werden sicher nicht durch einfache Antworten auf komplexe Probleme gelöst wie
- Ignorieren oder Verleugnen der Probleme;
- Ausgrenzung von Andersdenkenden, Hilfsbedürftigen und Flüchtlingen;
- Spaltung durch Hass und Hetze;
- Organisierte Vertreibung von Menschen – egal mit welchem Pass, …
- … oder noch schlimmer! – wie unsere deutsche Geschichte lehrt.
Die kommenden Herausforderungen können wir nur als gut funktionierende Solidargemeinschaft miteinander stemmen, nicht gegeneinander, sei es hier in TT incl. Ortschaften, im Kreis (s. Unterkunft Bürgermoos!), im Land, im Bund und auch global!