Kajo Aicher berichtet über das Konzept der Gemeinwohlokonomie.
Anschließend entstand eine angeregte Diskussion über die Themen Wirtschaft, Wohnen und soziale Aspekte der Gemeinwohlökonomie. Es wurden viele Fragen gestellt, die fast alle beantwortet wurden.
Vollständiger Bericht siehe hier:
GRÜNER Punkt befasst sich mit Gemeinwohlökonomie
Silvia Queri von den Grünen Kressbronn begrüßte den Referenten Kajo Aicher mit den einleitenden Worten, dass sich laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung 88% der Deutschen ein anderes Wirtschaftssystem, das insbesondere soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz berücksichtige, wünschten. Damit sei laut Queri sehr wahrscheinlich nicht der jüngste, rückwärtsgerichtete Vorschlag von Kevin Kühnert gemeint. Eine auch nicht gänzlich neue (green economy, social entrepreneurship etc.), aber zunehmend für Aufmerksamkeit sorgende Idee sei die der Gemeinwohlökonomie (GWÖ), mit der sich die GRÜNEN im ganzen Bodenseekreis derzeit verstärkt auseinandersetzen würden. Kajo Aicher von den GRÜNEN Tettnang befasst sich seit vielen Jahren mit dieser Idee, auch vor dem Hintergrund seines Engagements für einen fairen Handel (Welt Partner eG Ravensburg). Nach einem einführenden Video, das von der Universität Karlsruhe erstellt wurde (https://www.youtube.com/watch? v=cVFvyd7SmxU) und die Grundidee der Gemeinwohlökonomie kurz und prägnant zusammenfasst, erklärte Kajo Aicher, dass Politik (über alle Parteien hinweg!), Unternehmen und Gesellschaft hier zusammenarbeiten müssten und es sich dabei nicht um eine fertige Lösung handle, sondern um ein entwicklungsoffenes Konzept. Eine dem Gemeinwohl dienende Ökonomie sei sowohl im GG als auch in den Landesverfassungen verankert. GWÖ stelle die Forderung nach permanentem Wachstum fundamental in Frage: Das Statement von Margaret Thatcher TINA (there is no alternative) würde in der GWÖ durch TAPAS (there are plenty of alternatives) ersetzt. Warum sich so viele Menschen ein anderes Wirtschaftssystem wünschen, begründete Aicher mit den diversen Krisen, denen wir aktuell gegenüberstehen: Beispielsweise die Verteilungskrise (42 Menschen besitzen mehr als 50%), die Hungerkrise (805 Mio. Menschen sind unterernährt), die Umweltkrise (Welterschöpfungstag war 2018 bereits der 1. August), die Sinnkrise (2/3 der Menschen arbeiten ohne Herzblut) oder die Machtkrise (147 Konzerne beherrschen die Welt). GWÖ stelle infrage, dass Beziehungen in der Wirtschaftswelt zwangsläufig auf Konkurrenz und Gier beruhen müssten und nicht auch wie im Privaten auf Vertrauen, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Kooperation und Wertschätzung. Ein erster Schritt hin zur GWÖ sollte laut Aicher die Erstellung einer sog. Gemeinwohlmatrix (Werte x Berührungsgruppen) sein, die übrigens auch Gemeinden erstellen könnten, selbstverständlich unter Beteiligung der Bürger. Die Werte blieben die gleichen, die Berührungsgruppen änderten sich aber von z.B. Konsumenten oder Arbeitnehmer in Bürger oder politische Mandatsträger. In der Gemeinwohlmatrix bekämen Unternehmen (und Gemeinden sowie deren Eigenbetriebe) Pluspunkte, wenn sie in Bezug auf grundsätzliche Werte (die im Handbuch GWÖ beschrieben sind, wie z.B. faire Arbeitsbedingungen, nachhaltige und ressourcensparende Produktion etc.; beruhen auf den von der UNO formulierten Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030) mehr als die gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen erfüllen würden. Bei Gemeinden könne beispielsweise ein ethisch fundiertes Beschaffungsmanagement Pluspunkte geben, das nicht preisgesteuert vorgeht, sondern Aufträge an Unternehmen vergibt, die auch ausbilden. Mit dem Ergebnis dieser GWÖ-Bilanz könnten dann Produkte gekennzeichnet werden (z.B. Farbskala), damit der Konsument den GWÖ-Gedanken unterstützen könne. Mit einem solchen Zertifikat könnten zahlreiche andere, wie z.B. fairtrade überflüssig werden, da der Verbraucher mittlerweile mit der unübersichtlichen Anzahl diverser Zertifikate ohnehin überfordert sei. Außerdem könne die Politik laut Aicher Anreize für Unternehmen schaffen in Form von Steuervorteilen, Zollermäßigungen oder günstigen Krediten. Zum aktuellen Stand der GWÖ-Bestrebungen berichtete Kajo Aicher als Sprecher der Regionalgruppe Bodensee-Oberschwaben, dass es derzeit 16 Gruppen in Baden-Württemberg gäbe und ca. 40 Mitgliedsunternehmen. Die nächstgelegene Gemeinde, die konkret eine GWÖ-Zertifizierung anstreben würde, sei Konstanz. Mit dem Hinweis, dass ein eindeutiges Bekenntnis zur GWÖ übrigens auch im grün-schwarzen Koalitionsvertrag stünde, schließt Kajo Aicher seinen Vortrag. Im Anschluss diskutierten die zahlreichen Besucher*innen lebhaft, wobei insbesondere der Frage nachgegangen wurde, wie bzw. wer die Idee voranbringen kann bzw. soll: Der Staat mit Steuervergünstigungen, der Kunde, der nur GWÖ-zertifizierte Produkte kauft oder die Unternehmen selbst, die sich freiwillig dazu verpflichten (Leitbild), um Mitarbeiter und Kunden zu binden? Nach fast drei Stunden bedankten sich die GRÜNEN Vorstände Hans Steitz und Sabine Witzigmann beim Referenten und den Besucher*innen für den interessanten Vortrag und die anregende Diskussion und beschlossen den Abend mit der Absichtserklärung, dieses Thema in Kressbronn in jedem Fall weiter zu verfolgen.
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